Offline ist der neue Luxus: Wenn die digitale Welt die Kreativität erstickt
"Früher wollte ich Neues entdecken, Dinge suchen, finden und erschaffen. Jetzt ist dieser Impuls verschwunden. Weder online noch offline entdecke ich wirklich Interessantes – keine inspirierenden Webshops, keine spannenden Foren, keine Musik von Bands, die aus den Tiefen der Subkultur ans Tageslicht gezerrt werden muss. Es fühlt sich an, als hätte die digitale Flut meine Neugier weggespült und die einst grenzenlose Welt zu einer sehr monotonen zweidimensionalen verkommen lassen. Oder kurz: Als hätte sie mich von meinem kreativen Ich getrennt”
Laut Genner ist dies ein klassisches Beispiel für digitale Erschöpfung. „Kreative Prozesse brauchen Musse und oft sogar Langeweile, um sich entfalten zu können. Früher haben sich Kreative bewusst zurückgezogen – aufs Land oder in Ruhephasen – um neue Ideen entstehen zu lassen. Smartphones machen heute den Rückzug vor Ablenkungen noch schwieriger.“
Moderne Technologien erleichtern unseren Alltag, doch ständige digitale Reizüberflutung kann Erschöpfung und Konzentrationsverlust verursachen. Dr. Sarah Genner, Digitalexpertin, erklärt: „Offline-Sein ist heute ein Luxus, weil viele alltägliche Dienstleistungen ans Smartphone gebunden sind und der Druck zur ständigen Erreichbarkeit wächst.“
Durch die ständige digitale Reizüberflutung verlieren viele Menschen ihre kreative Begeisterung. Wie kann man diesem Zustand entkommen? Wie gelingt die Rückkehr in eine unverfälschte Welt, in der Glück nicht erst durch Teilen und die dadurch generierten Likes in sozialen Medien entsteht.
Die Antwort: Mikro-Digital-Detox
Ein kompletter Digital Detox ist jedoch für viele nicht realistisch. Doch bereits Mikro-Auszeiten helfen, digitale Grenzen bewusst zu setzen: „Push-Benachrichtigungen deaktivieren, gezielte bildschirmfreie Zeiten einplanen und sich erlauben, am Wochenende nicht erreichbar zu sein“, rät Genner.
Digitale Pausen stärken nicht nur die Konzentration, sondern auch das Wohlbefinden und die zwischenmenschliche Präsenz. Kreative Menschen profitieren besonders davon, wenn sie gezielt analoge Zeiten einplanen – sei es durch Natur, Hobbys oder persönliche Begegnungen. Und hat man sich erst an die kleinen Offline-Auszeiten gewöhnt – es geht schneller als man denkt – kommt es plötzlich sogar vor, dass man sich zuhause bewegt, ohne das Handy von Zimmer zu Zimmer mit sich zu nehmen. Letzte Woche bemerkte ich beispielsweise erst im Büro, dass ich mein Handy zu Hause vergessen hatte. Überraschenderweise war dies einer der entspanntesten und spontansten Tage seit Langem: Beim Morgenkaffee im Quartiercafé den Blick durch die Baumkronen schweifen lassen, einen ungezwungenen Austausch mit der Tischnachbarin beginnen und später in der Bibliothek ein paar Kochbücher entdecken.
Und plötzlich war es wieder da – das Gefühl, das mir so gefehlt hatte: Ich in meiner Welt, mit meinen Gedanken. Nicht für einen Post inszeniert, nicht durch digitale Filter geformt, sondern einfach echt, unverfälscht, nur für mich.
Mit klaren Grenzen zur digitalen Welt habe ich mich zurück in die Realität katapultiert. Doch wie ist es mit Kindern, die diese bewusste Selbstregulation noch nicht besitzen? Die dem Cyberspace und seinen Algorithmen schutzlos ausgeliefert sind? Sie wachsen in einer Welt auf, in der digitale Reize ihre Entwicklung formen. Wie beeinflusst permanente Bildschirmzeit die jüngsten Generationen?
Digitale Regeln in Schulen – klare Grenzen sind wichtig
Gerade in Schulen stellt sich die Frage nach dem richtigen Umgang mit Smartphones. „Das Smartphone kann ein nützliches Tool sein, aber auch ein massiver Störfaktor“, erklärt Genner. Während einige Schulen bereits klare Regeln festgelegt haben, gibt es erfolgreiche Beispiele aus Ländern wie den Niederlanden und England, wo Handys aus Klassenzimmern verbannt wurden.
Doch statt ausschliesslich über Einschränkungen zu sprechen, sollte der Fokus auf ganzheitlicher Bildung liegen: „Wichtiger als ein Smartphone-Verbot ist, dass junge Menschen genügend Bewegung haben, Freundschaften pflegen und lernen, mit Technologie bewusst umzugehen."
Und vielleicht ist die grösste Frage unserer Zeit nicht “Was verpasse ich online?”, sondern “Was erlebe ich, wenn ich offline bin?”
Dr. Sarah Genner ist Digitalexpertin, Hochschuldozentin und Autorin. Ihr Spezialgebiet sind die Auswirkungen digitaler Medien und Technologien auf Mensch, Gesellschaft und Arbeitswelt.