Die unsichtbare Bedrohung: Wie die digitale Kriegsführung unsere Gesellschaft prägt

Soziale Medien werden in einer zunehmend polarisierenden Welt immer mehr als Instrument der Einflussnahme betrachtet. Von der Regierung kontrollierte Plattformen wie TikTok dienen nicht nur der Unterhaltung - sie sind vielmehr Teil einer Agenda zur Kontrolle und Beeinflussung öffentlicher Meinungen. Während Europa noch über Regulierungen debattieren, integrieren China und die USA soziale Medienplattformen und digitale Strategien vollständig in ihre nationalen Sicherheitsinteressen und -strategien. Wer auch immer diesen technologisch-digitalen Wettstreit gewinnt, wird einen entscheidenden Einfluss auf die Welt haben.

Dr. Jean-Marc Rickli, Experte für Sicherheitsstrategien und Leiter des Bereichs Globale und aufkommende Risiken am Genfer Zentrum für Sicherheitspolitik GCSP in Genf, erläutert die Mechanismen dieser neuen Form der Kriegsführung.

Unterschätzt Europa den digitalen Einfluss in der heutigen Welt?

Ja und nein. Nein, denn die Europäer sind sich zunehmend bewusst, wie subversive Operationen demokratische Prozesse gefährden. Der Europäische Auswärtige Dienst hat kürzlich seinen dritten Bericht über ausländische Informationsmanipulation und -interferenz (FIMI) veröffentlicht, der Russlands Schlüsselrolle und in geringerem Masse Chinas Einfluss hervorhebt.

Ja, denn es gibt nur wenige europäische Länder mit spezialisierten Agenturen zur Bekämpfung von FIMI und Desinformation. Frankreichs Viginum könnte hier ein Vorbild sein, da es erfolgreich russische Desinformationskampagnen wie die Operation Doppelgänger entlarvt hat. Diese Kampagne versuchte, legitime europäische Medien und Regierungsseiten nachzuahmen, um die Unterstützung für die Ukraine zu untergraben.

Desinformation und subversive Operationen, die über digitale Plattformen durchgeführt werden, ermöglichen eine gezielte Beeinflussung der öffentlichen Meinung, die sowohl kurz- als auch langfristige Auswirkungen hat. Kurzfristig können sie zum Beispiel eine Wahl beeinflussen, langfristig können sie das Vertrauen der Bürger in Institutionen und traditionelle Medien untergraben.

Gibt es konkrete Beispiele für die Militarisierung von digitalen Plattformen?

Meta wurde beispielsweise während der Massentötungen an den Rohingyas in Myanmar im Jahr 2017 zur Verstärkung von Hassreden genutzt. Im Bereich des Wettbewerbs zwischen Grossmächten ist der Fall TikTok das offensichtlichste Beispiel. Die US-Regierung (zumindest unter der Biden-Administration, während die Trump-Administration die Durchsetzung des Verbots für TikTok weiter vorantreibt) betrachtet TikTok als Bedrohung der nationalen Sicherheit. Die Plattform wird nicht nur zum Sammeln von Daten, sondern auch zur Verbreitung bestimmter Inhalte genutzt. Sie bestimmt, welche Inhalte verstärkt werden, was indirekt die Meinungsbildung beeinflussen und sich in politischen Einstellungen niederschlagen kann.

Die US-Regierung geht davon aus, dass TikTok das Potenzial hat, eine ganze Generation zu beeinflussen, da es die Aufmerksamkeit einer ganzen Altersgruppe auf sich zieht, und hat daher beschlossen, TikTok zu verbieten. Soziale Medien und LLMs sind nicht neutral, wenn es um Werte und Weltanschauungen geht. Sie können Ihr eigenes Experiment durchführen, indem Sie den US-amerikanischen ChatGPT oder den chinesischen Deepseek LLMs die gleiche Frage stellen, und Sie werden sehen, dass Sie sehr unterschiedliche Antworten erhalten werden, wenn es um das Tiananmen oder den Status von Taiwan geht.

Welche Rolle spielen die Tech-Giganten? Sind sie Teil der Lösung oder ein weiteres Risiko?

Die Algorithmen grosser Tech-Unternehmen sind äusserst mächtig, da sie nicht nur bestimmen, welche Inhalte eine Person sieht, sondern auch aus deren Surfverhalten lernen.

Die Nutzung dieser Unternehmen durch Regierungen unterscheidet sich stark zwischen China und den USA. Chinesische Tech-Giganten stehen unter staatlicher Kontrolle und fördern nationale Interessen, insbesondere durch das Konzept der zivil-militärischen Fusion, das militärische und zivile Technologien vereint, um die Volksbefreiungsarmee bis 2049 zu einem weltweit führenden Militär zu machen.

US-Tech-Giganten sind dagegen unabhängiger und priorisieren ihre Geschäftsmodelle, die auf Datenmonetarisierung basieren. Nach den Snowden-Enthüllungen zeigten sie sich zurückhaltend gegenüber der US-Regierung, doch das änderte sich unter Präsident Trump. Heute sind viele eher bereit, mit der Regierung zusammenzuarbeiten. Zudem sind neue Akteure wie Palantir und Enduril entstanden, die gezielt Technologien für das US-Militär entwickeln und zur globalen Dominanz der USA beitragen sollen.

Unterschätzt der Westen die Gefahr der sozialen Medien?

Das glaube ich nicht. Der Wendepunkt kam, als der Islamische Staat (ISIS) Mitte der 2010er Jahre soziale Medien wie Twitter (heute X) gezielt nutzte, um seine Narrative zu verbreiten und die Errichtung seines Kalifats voranzutreiben. ISIS war die erste Organisation, die soziale Medien effektiv als Waffe einsetzte – vor allem durch die schockierende Viralität von Enthauptungsvideos.

Seitdem hat der Westen dazugelernt. Doch Demokratien sind von Natur aus schwieriger zu schützen als Länder, die das Internet und digitale Plattformen gezielt “top down” gestalten und kontrollieren. Diese Asymmetrie des Zugangs – in Kombination mit Regulationslücken - macht offene Gesellschaften besonders verwundbar gegenüber Manipulationen und Desinformation – insbesondere über soziale Medien. Es ist die Ironie des Schicksals, dass in der Abwesenheit von staatlicher Zensur und Kontrolle der Grund für die erhöhte Angreifbarkeit verortet ist.

Wie kann sich Europa schützen?

Es gibt keine Einzellösung zur wirksamen Bekämpfung von Desinformation und Subversion - insbesondere im digitalen Zeitalter, in dem KI, Big Data und soziale Medien diese Herausforderungen verstärken. Die Regierungen brauchen einen vielschichtigen Ansatz, der mehrere Instrumente kombiniert: Förderung des kritischen Denkens in der Bildung, Unterstützung des unabhängigen Journalismus, klare Vorschriften für den digitalen Raum und Förderung verantwortungsvoller Innovationen. Darüber hinaus sind Überwachungsmechanismen und gezielte Massnahmen zur Bekämpfung von Desinformation und Subversion von entscheidender Bedeutung.

Das übergeordnete Ziel bleibt der Schutz des Vertrauens der Bürger in ihre demokratischen Institutionen, da dies die Grundlage einer jeder offenen Gesellschaft ist. Darüber hinaus könnte die Entwicklung eines europäischen Tech-Giganten dazu beitragen, den Einfluss von Global Players wie den USA und China auszugleichen.

Gibt es Hinweise darauf, dass Länder psychologische Kriegsführung einsetzen, um das politische Verhalten westlicher Bürger und Bürgerinnen langfristig zu verändern?

Desinformation und Subversion sind nicht neu, doch die kognitive Kriegsführung gewinnt weltweit an Bedeutung. Dabei geht es darum, zu beeinflussen, wie Menschen denken und handeln. Digitale Technologien, KI und immersive Technologien wie Metaversen ermöglichen zunehmend präzises persönliches Profiling auf globaler Ebene.

Einige Länder – etwa China mit seiner dreifachen Kriegsführung (Medien-, psychologische und juristische Kriegsführung) oder Russland mit seiner Tradition politischer Manipulation – setzen gezielt auf Subversion. Auch die NATO befasst sich seit den späten 2010er Jahren mit kognitiver Kriegsführung.

Mit der zunehmenden Demokratisierung subversiver Technologien wie beispielsweise Spionagesoftware sind nicht nur Staaten, sondern auch nicht staatliche Akteure und Einzelpersonen in der Lage, Desinformationskampagnen durchzuführen. Da die Zugangskosten für diese Technologien schnell sinken, verbreiten sie sich rasch.

Angesichts der rasanten technologischen Entwicklungen und der zunehmenden Verbreitung subversiver Strategien steht Europa vor einer entscheidenden Weichenstellung. Es geht nicht nur darum, sich zu verteidigen, sondern aktiv Massnahmen zu ergreifen, um demokratische Werte, digitale Souveränität und gesellschaftliche Stabilität zu bewahren. Die Frage ist nicht mehr, ob Europa reagieren sollte – sondern wie schnell, bevor es zu spät ist.

Dr. Jean-Marc Rickli

Experte für Sicherheitsstrategien und Leiter des Bereichs Globale und aufkommende Risiken am Genfer Zentrum für Sicherheitspolitik GCSP in Genf

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